Sonntag, 26. Oktober 2008

Der Geschmack von Trauben und Honig


Gedicht


Vorderseite

Du hast geschlafen. Ich wecke dich.
Der große Morgen beschert die Illusion eines Beginns.
Du hattest Vergil vergessen. Da sind die Hexameter.
Ich bringe dir viele Dinge.
Die vier Wurzlen des Griechen: Erde, Wasser, Feuer, Luft.
Einen einzigen Frauennamen.
Die Freundschaft des Mondes.
Die hellen Farben des Atlas.
Das läuternde Vergessen.
Die Erinnerung, die auswählt und neu entdeckt.
Die Gewohnheit, die uns hilft, uns unsterblich zu fühlen.
Die Kugel und die Zeiger, die die ungreifbare Zeit
parzellieren.
Den Duft von Sandelholz.
Die Zweifel, die wir nicht ohne Eitelkeit Metaphysik nennen.
Die Krümmung des Stocks, den deine Hand erwartet.
Den Geschmack von Trauben und Honig.

Rückseite

Einen Schlafenden wieder erinnern
ist ein gewöhnlicher, alltäglicher Vorgang,
der uns erzittern lassen könnte.
Einen Schlafenden wieder erinnern
heißt, einem anderen das unendliche
Gefängnis des Universums
und seiner Zeit ohne Abend und Morgen aufbürden.
Heißt, ihm offenbaren, daß er jemand oder etwas ist,
unterworfen einem Namen, der ihn bloßstellt,
und einer Anhäufung aus Gestern.
Heißt, seine Ewigkeit trüben.
Heißt, ihn mit Jahrhunderten und Sternen belasten.
Heißt, der Zeit einen weiteren Lazarus wiedergeben,
übervoll von Erinnerung.
Heißt, Lethes Wasser schänden.

(Jorge Luis Borges, Gedicht)


heute ist meine nichte geboren, 1h nachts.
ein kleines, rotes wesen
, mit augen, die diese welt noch nicht sehen.
ein herbstkind
wie ich

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

eine thematisch passende Raffinesse: man beachte die Zunahme der Verszeilen in den jeweiligen Strophen und die prägnant gesetzte metrische Irregularität im vorletzten Vers!


HERBSTTAG (Rainer Maria Rilke)

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß./
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,/
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein/
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,/
dränge sie zur Vollendung hin und jage/
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr./
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,/
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben/
und wird in den Alleen hin und her/
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.