Sonntag, 17. April 2011

kalifornischer gruß...


Störung des Sinnzusammenhangs

Der Dramatiker Heiner Müller gratulierte zum Jubiläum der Volksbühne aus dem fernen Kalifornien


Lieber Frank Castorf, Johann Kresnik, Matthias Lilienthal, liebes Ensemble,
stöhnend unter der Last meines Versprechens, zum 80jährigen Bestehen der Volksbühne etwas aufzuschreiben, sitze ich in der Villa Aurora, einer Bibliothek von 23 000 Bänden mit Blick auf den Pazifik, umgeben von einer Zivilisation aus übelriechenden Duftstoffen, fastfood, (meine erste Futterallergie habe ich fast hinter mir), mehr oder weniger intelligenten Computern und lächelnden Idioten, HAPPINESS IS DUTY/GLÜCK IST PFLICHT; oder, wie mein Freund Bernd Böhmel aus Dresden nach seiner ersten Westreise diesen Zustand beschrieben hat: von Arschgeigen umzingelt. Mit jedem neuen Text, den ich lese, Literatur oder Zeitung, wächst der Widerstand meiner Schreibhand, rechts oder links macht keinen Unterschied, und es ist ein deutscher Reflex, den ich der kalifornischen Sonne nicht anlasten kann, gegen die trüben Signale, die von meinen maroden Gehirnwindungen ausgehn. MUTTER ICH KANN NICHT MEHR SINGEN / DIE WÜNSCHE DES HERZENS QUALMEN WIE LUNTE (Majakowski).
Nur meine alte Schreibmaschine, die ohne Gefühl und Verstand wiedergibt, was ich ihr eingebe, rettet mich vor dem Verstummen.
Theater, wenn es lebt, ist eine alte Schreibmaschine, wenn es gut ist, mit löchrigem Farbband, in den Löchern wohnt das Publikum, und manchmal kreischt es, dann freut sich die Kritik. Die Geschichte vom Lehrling im Kolonialwarenladen in Hamburg, der in das Faß mit dem Sauerkraut spuckt, und der Ladenhüter haut ihm eine Ohrfeige: es ist nicht wegen dem Sauerkraut, aber: was soll das, die Ohrfeige gilt der Angst wie dem Terrorismus, der Störung des Sinnzusammenhangs.
Theater, denen es nicht mehr gelingt, die Frage „Was soll das“ zu provozieren, werden mit Recht geschlossen. Ich bin froh, daß es die/eure Volksbühne gibt, so wie sie ist und hoffentlich noch eine Weile bleiben wird, ÜBER DEN GEWITTERN UND AM VORABEND DES TODES. Eure historische Leistung ist die Befreiung aus der programmierten Sinnschleife, in der die Stimme erstickt. Nach dem Einlaß in die Suppenküche des Kapitals: spuckt weiter in die Suppe am Vorabend des Todes und über den Gewittern. Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert.
Mit kalifornischem Gruß
Heiner Müller

1994