Montag, 19. Mai 2008

Frühsommer

Die letzten Wochen, jene Wochen des hereinbrechenden Frühsommers in Berlin, mit ihrem zartweichen Blau, mit ihrer ersten durchdringenden Wärme und dem überraschenden und so zauberhaften Gefühl der Befreiung, lassen mich im Rückblick hier verwundert stehn. Die überwältigende Schönheit dieser Momente verbunden mit der kindlichen Naivität überrascht zu sein, dass es so kommt, dass der Winter irgendwann endet, dass die Sonne wärmt und ein Gefühl der Zufriedenheit produzieren kann, ohne dass etwas weiteres passiert wäre, eben nur dadurch, dass sie strahlt und der Himmel Raum zu haben scheint. Eine ungewohnte Leichtigkeit stellt sich ein, der man sich kaum entziehen kann. Sie überkommt einen unbeschwert und ohne Anstrengung, ohne Nachdenken und Forcieren, sie ist da mit dem Licht und fragt nicht nach, ob sie bestellt worden wäre. Sie bedarf keiner Rechtfertigung.

„The smiles return to their faces“ und man meint kurzzeitig in einer anderen Stadt, in einer anderen Welt zu leben. Die Gesichter hellen auf und eine unangespannte Freundlichkeit breitet sich aus, über die man durchaus stutzig werden könnte. Man wird’s aber nicht, weil man es genießt. Die Röcke werden zum ersten Mal wieder rausgeholt, die Kleider enger, bunter und mit sichtbarem Zug zur Haut. Die Blicke verstoßen sich nicht, halten länger und die junge Dame auf dem Weg schaut gar zurück. Ich gebe zu, ich habe mir den Hals nicht nur vereinzelt verrenkt, die Verblüffung über erahnte weiche Brust, schwingende Bewegungen, gerundete Proportionen und die stilschweigende Zustimmung des Gegenüber war nicht nur verführerisch, sie war zwanghaft!
Und damit sind wir beim Thema: Die alte abgewrackte Menschheitsschau! sie findet in mir statt! sie explodiert in jeder Sekunde in meinem Kopf!! Sie zieht meine Sehnen, sie dreht meinen Kopf, sie hebt meine Stimmung. Die Unfreiheit der Reaktionen ist erniedrigend und das nicht nur bei mir, weil ich meinetwegen ein besonders übles Exemplar dieser Spezies wäre (was natürlich wiederum auch nicht ganz ausgeschlossen werden kann).
Es ist ein bisschen Sonne, ein wenig Freizügigkeit und fehlende Abweisung, die die Welt auf den Kopf stellt, alles verändert im Gleichen und in zwei Wochen verzogen sein wird.

Ich reagiere genau auf die zur Schau gestellten Körperteile, unterbewusst und danach mit einem Geschmacksurteil der ‚Schönheit’, des Außergewöhnlichen, Beeindruckenden, der Ver-/Bewunderung, das gedanklich nachzulegitimieren sucht. Und ich glaube nicht, dass meine Gegenüber in den meisten Fällen bewusster zur Schau stellen als ich erfreut zur Kenntnis nehme, als ich nachblicke und meinen Hundereflex vollführe. Propagation makes the world go round und unsere Zwänge sind wohl eingerichtet: „Brüder über'm Sternenzelt/ Muss ein lieber Vater wohnen“ – ganz bestimmt...

Die Frage ist nur, muss es für mich ein Problem darstellen, ein sabbernder Hund zu sein? Muss ich darunter leiden zu erkennen, dass ich unfrei bin und andere, tiefere Gewalten an meinen Strippen ziehen? Muss ich mich schämen, ein Teil der unten von Brinkmann beschriebenen, hässlichen Schau zu sein und nicht auszubrechen, nicht ausbrechen zu können? Nicht das ganze System oder mich selbst hochzujagen, weil gerade diese tiefen Impulse der Selbsterhaltung davon abhalten (vielleicht um im nächsten Sommer wieder für zwei Wochen einmal im Jahr zwanglos präsentierte Brustsilhouetten sehen zu können??).
Das einzige konsequente Verhalten gegen diese Zwänge, das völlige Verwehren der kreatürlichen Impulse, wie es bei den Einsiedlern und Gläubigen, den Fundamentalisten und Irren auftritt, könnte selbst wieder eine körperliche Disposition sein. Aus biologistischer Sicht natürlich eine fehlgeschlagene (Biologismus hat einen deutlichen Zug zum politisch Inkorrekten), da sie Fortpflanzung verhindert, aber ein Masochismus des Glaubens an bestimmte Werte/ Ideale ist mir durchaus in einer Erklärung des hormonell gesteuerten Gefallens denkbar.

Ist es ein falsches Menschenbild, dass ich trage und das mir in der Konfrontation mit der von mir so wahrgenommenen ‚Realität’ Schmerzen bereitet und den Gedanken an Ungenügen und Überdruss aufkommen lässt? An Ekel? Ein Glauben an längst widerlegte Bestimmungen und Fähigkeiten dieses Wesens Mensch? Und an seinen Abklatsch Ich?

Ich weiß es nicht, aber mir scheint, die innere Rebellion, zumindest das Aufzeigen, dass man diese Strukturen zur Kenntnis genommen hat, dass man sie nicht akzeptiert, auch wenn man ihnen ausgeliefert ist, als eine halbwegs ‚würdige’, angebrachte Verhaltensweise. Sie ändert nichts, sie hebt auch nicht das Selbstwertgefühl, aber sie scheint eine Variante, ein Aufschieben, ein Zeitgewinn für einen (manchmal) denkenden Menschen.

„Die einzige eines höheren Menschen würdige Einstellung ist das beharrliche Festhalten an einer Tätigkeit, die er als nutzlos erkennt, das Unterwerfen unter eine Disziplin, von der er weiß, daß sie fruchtlos ist, und das rigorose Anwenden philosophischer und metaphysischer Denknormen, deren Bedeutungslosigkeit er erkannt hat“.

(Fernando Pessoa)

Keine Kommentare: