Samstag, 17. Dezember 2016
bei mir darbten die hungrigen...
bei mir darbten die hungrigen - wenn es sie denn gäbe. doch ich gebe zu, dass ich jenes durchaus als selbstanklage verstehe, auch wenn sie sich im mantel der hypothese versteckt und verschanzt. schreiben, mit details oder ohne, ist sicherlich ein akt des heraustretens und somit auch ein angebot an andere in zeiten der unsicherheit - ganz egal, ob jemand hungert oder liest, oder die worte wie schritte auf dem gerichtshausflur verhallen. die server-farmen dieser welt registrieren sie ganz bestimmt...
"In writing with detail, you are turning to face the world. It is a deeply political act, because you are not just staying in the heat of your own emotions. You are offering up some good solid bread for the hungry."
(Natalie Goldberg, Writing Down the Bones)
Freitag, 11. November 2016
"Verdutzt sitzt er im Grase und reibt sich die Augen, wie ein Mann, der es trotz mancher Ermahnung versäumt hat, die Presse zu lesen."
Sieben Jahre blieb Hans Castorp bei Denen hier oben, - keine runde Zahl für Anhänger des Dezimalsystems, und doch eine gute, handliche Zahl in ihrer Art, ein mythisch-malerischer Zeitkörper, kann man wohl sagen, befriedigender als etwa ein trockenes halbes Dutzend. Er hatte an allen sieben Tischen des Speisesaales gesessen, an jedem ungefähr ein Jahr. Zuletzt saß er am schlechten Russentisch, zusammen mit zwei Armeniern, zwei Finnen, einem Bucharier und einem Kurden. Er saß dort mit einem Bärtchen, das er sich mittlerweile hatte stehen lassen, einem strohbloden Kinnbärtchen ziemlich unbestimmter Gestalt, das wir als Zeugnis einer gewissen philosophischen Gleichgültigkeit gegen Äußeres aufzufassen gezwungen sind. Ja, wir müssen weitergehen und diese Idee einer persönlichen Neigung zur Vernachlässigung seiner selbst in Verbindung bringen mit einer ebensolchen Neigung der Außenwelt in Beziehung zu ihm. Die Obrigkeit hatte aufgehört, Diversionen für ihn zu ersinnen. [...] Man ließ ihn in Ruhe - ein wenig wie einen Schüler, der des eigentümlich lustigen Vorzuges genießt, nicht mehr gefragt zu werden, nichts mehr zu tun zu brauchen, weil sein Sitzenbleiben beschlossene Sache ist und weil er nicht mehr in Betracht kommt, - eine orgiastische Form der Freiheit, wie wir hinzufügen, indem wir uns selber fragen, ob Freiheit je von anderer Form und Art sein könne, als ebendieser. Jedenfalls war hier einer, auf den die Obrigkeit fürder kein sorgendes Auge zu haben brauchte, weil es gewiß war, daß in seiner Brust keine wilden und trotzigen Entschlüsse mehr reifen würden, - ein Sicherer und Endgültiger, der längst gar nicht mehr gewußt hätte, wohin denn sonst, der den Gedanken der Rückkehr ins Flachland überhaupt nicht mehr zu fassen imstande war...
(Thomas Mann, Der Zauberberg)
Dienstag, 5. Juli 2016
brevity...
"jede Kunstäußerung, die über eine Stunde hinausgeht, ist in meinen Augen eine Zudringlichkeit."
(Gottfried Benn an Peter Schifferli, 20.3.1948)
Berlin - Karthago - Pompeji
Benn an seinen schweizer Verleger am 4.9.1949:
"Die Lage in Berlin ist schlecht. Das Einzige, was es bietet, sind Spannungen, täglich, stündlich, geistig und materiell. Ein Netz von Funken und Stahlen (sic!) fluoresziert ohne Unterbrechung über seinen Dächern. Ich glaube, daß weder Paris noch London so die Zeichen der Gefahren trägt, die uns alle bedrohn. Hier ist Karthago vor der letzten Zerstörung und Pompeji, ehe der Vulkan began. Aber auch ein schöner Spätsommer ist augenblicklich mit dem schon fahlen Licht und dem Zögern der Rosen und der Stunden. Also etwas für die morbiden Empfangsapparate, wie es das von Herrn Rychner geschilderte 'Lyrische Ich' besitzt."
beide zitate ein unerwarteter fund in bern: (fast) der ganze benn in zwei passagen...
Freitag, 20. Mai 2016
Ah, mas que saudade eu tenho da Bahia...
Donnerstag, 14. April 2016
Freitag, 5. Februar 2016
Das Heimweh nach den verrauchten, versoffenen Kreuzberger Kneipen...
„Ein Missvergnügter
ist Jemand, der sich mit der Welt entzweit hat und dies am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Fortuna hat ihm etwas vorenthalten, und nun ist er darüber verstimmt und wird ihr zum Trotze unglücklich sein. Die Wurzel seiner Krankheit ist ein sich selbst schmeichelnder Stolz und eine zur Gewohnheit gewordene Empfindlichkeit, wenn etwas seinen Launen zuwider läuft; und der Grund dafür ist gewöhnlich einer von diesen dreien: ein strenger Vater, ein zänkisches Weib oder sein gescheiterter Ehrgeiz. Er hat das Wesen der Welt nicht eher in Rechnung gezogen, als bis er es zu spüren bekam; und nun fallen alle Streiche um so schwerer auf ihn, weil sie nicht seiner Erwartung entsprechen. Er hat nunmehr allem außer seinem Stolze entsagt und ist doch noch voller Dünkel in der eitlen Zurschaustellung seiner Melancholie. Seine Haltung ist von einer einstudierten Achtlosigkeit; er hält die Arme verschränkt und läßt den Kopf ebenso nachlässig hängen wie ihm der Mantel am Leib hängt; und einem Hutband ist er ebenso feindlich gesonnen wie dem Glücke. Er klagt über die Zeitläufe und die Aufsteiger und seufzt über die Vernachlässigung von Männern von Talent, das heißt solchen, wie er selber einer ist. Sein Leben lang befleißigt er sich der Satire, und beständig geißelt er die Eitelkeit des Zeitalters. Es bereitet ihm Unbehagen, wenn er Menschen fröhlich sieht, und er fragt sich, welchen Grund zu lachen sie finden können. Er verzieht seine Lippen niemals zu mehr als zu einem Lächeln, und bevor er die Vierzig erreicht, hat ihm das Stirnrunzeln Falten eingetragen. Schließlich fällt er in jene tödliche Melancholie, die ihn zu einem erbitterten Menschenfeinde macht, und das ist des Unfriedens liebster Gefährte. Er ist der Funke, der das Gemeinwohl in Brand steckt; und betätigt sich selbst als Blasebalg, um das Feuer noch recht anzufachen; und wenn irgend etwas aus ihm wird, dann gewöhnlich eines von diesen dreien: Klosterbruder, Verschwörer oder Tollhäusler.“
(John Earle, 1628)