Sonntag, 26. Oktober 2008

Der Geschmack von Trauben und Honig


Gedicht


Vorderseite

Du hast geschlafen. Ich wecke dich.
Der große Morgen beschert die Illusion eines Beginns.
Du hattest Vergil vergessen. Da sind die Hexameter.
Ich bringe dir viele Dinge.
Die vier Wurzlen des Griechen: Erde, Wasser, Feuer, Luft.
Einen einzigen Frauennamen.
Die Freundschaft des Mondes.
Die hellen Farben des Atlas.
Das läuternde Vergessen.
Die Erinnerung, die auswählt und neu entdeckt.
Die Gewohnheit, die uns hilft, uns unsterblich zu fühlen.
Die Kugel und die Zeiger, die die ungreifbare Zeit
parzellieren.
Den Duft von Sandelholz.
Die Zweifel, die wir nicht ohne Eitelkeit Metaphysik nennen.
Die Krümmung des Stocks, den deine Hand erwartet.
Den Geschmack von Trauben und Honig.

Rückseite

Einen Schlafenden wieder erinnern
ist ein gewöhnlicher, alltäglicher Vorgang,
der uns erzittern lassen könnte.
Einen Schlafenden wieder erinnern
heißt, einem anderen das unendliche
Gefängnis des Universums
und seiner Zeit ohne Abend und Morgen aufbürden.
Heißt, ihm offenbaren, daß er jemand oder etwas ist,
unterworfen einem Namen, der ihn bloßstellt,
und einer Anhäufung aus Gestern.
Heißt, seine Ewigkeit trüben.
Heißt, ihn mit Jahrhunderten und Sternen belasten.
Heißt, der Zeit einen weiteren Lazarus wiedergeben,
übervoll von Erinnerung.
Heißt, Lethes Wasser schänden.

(Jorge Luis Borges, Gedicht)


heute ist meine nichte geboren, 1h nachts.
ein kleines, rotes wesen
, mit augen, die diese welt noch nicht sehen.
ein herbstkind
wie ich

Freitag, 24. Oktober 2008

nachtrag: dem steinernen gast


so, nun endlich in der von brinkmann vorgegebenen graphischen anordnung:





(rdb, westwärts teil 2)

Donnerstag, 23. Oktober 2008

und wie Plunder...


[...] und wie Plunder
brennt unsere Hoffnung
in die ausgezährte
Nacht ein Irrlicht den Säuen
zum Trog

(RDB, An Gryphius)


Dienstag, 21. Oktober 2008

STERBENDER MANN MIT SPIEGEL


STERBENDER MANN MIT SPIEGEL

Puschkin sterbend
An seiner Duellwunde
Ließ sich einen Spiegel bringen
Und eine Schüssel mit Hirsebrei
WIE EIN AFFE sagte er
Löffelnd in den Spiegel

Nach menschlichem Ermessen werden wir
Einander nicht wiedersehen Wir brauchen uns
Nichts mehr vorzumachen Es kommt Wahrscheinlich
Nichts Neues mehr sondern es kommt Wahrscheinlich
Nichts Was immer das sein mag
Auch der Sprung in den Spiegel brächte uns
Einander nicht mehr näher Glas klirrt
Wie Frauen schrein

2.10.1992

(Heiner Müller)


Donnerstag, 16. Oktober 2008

Es ist tatsächlich nicht einzusehen ...


schon vor einiger zeit habe ich vollmundig verkündet, dass ich einige, so wundervoll politisch inkorrekte zitate rolf dieter brinkmanns zur hand hätte und demnächst präsentieren wolle. dem ist wirklich so, aber ich komme einfach zu gar nichts. man sollte diese lästigen realitätsanforderungen einfach abschalten... bevor ich nun aber übers wochenende kurz entschwebe, wollte ich zumindest ein kleines schmanckerl von ihm da lassen:


„Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktion von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt …“


(RDB, Der Film in Worten)


das nenne ich wahren idealismus! der aufbruch von kunst und intelligenz in ganz neue dimensionen der selbstverwirklichung... ;-)



For life is quite absurd
And death's the final word.
You must always face the curtain with a bow.
Forget about your sin.
Give the audience a grin.
Enjoy it. It's your last chance, anyhow.
So,...

Always look on the bright side of death,
Just before you draw your terminal breath.

Life's a piece of shit,
When you look at it.
Life's a laugh and death's a joke it's true.
You'll see it's all a show.
Keep 'em laughing as you go.
Just remember that the last laugh is on you.
And...

Always look on the bright side of life.
Always look on the right side of life.

(monty python, life of brian)




Freitag, 10. Oktober 2008

singing "a song of sorrow and grieving"


so, heute mal was lehrreiches:


Thomasin von Zerclaere: „Der Welsche Gast“:


daz ist der minne gewonheit.

die sporen fuorent durh die boume
daz ross, daz da vert ane zoume.
alsam vert der, der ane sinne

went spilen mit der vrowen minne.
sie fueret in hin uber die boume,
riht ers nicht mit des sinnes zoume.
daz fiuwer ist nuotze unde guot,
swer im niht unrehte tuot.

gewinnet daz fiuwer ueberchraft
daz man im let die maeisterschafi
so ist verlorn und verwuost gar
swaz ez begrifet, daz ist war.

all daz selbe ist umb die minne,
ob si unterchumt die sinne:
sie blendet wises manne muot
und schendet sel, lip, ere und guot.
swer dem fiuwer nahet ze hart,
der besenget sinen bart.


"Die Natur der Liebe ist so beschaffen, dass sie den Weisen weiser macht und dem Toren noch mehr Narrheit gibt. Das ist Gesetz der Liebe. Die Sporen treiben ein Ross in das Dickicht, wenn es kein Zaumzeug besitzt. Ebenso verfährt der, der ohne Verstand glaubt, mit der Frauenliebe spielen zu können. Sie führt ihn über Stock und Stein, wenn er sie nicht mit dem Zaum des Verstandes zügelt. — Das Feuer ist gut und nützlich, wenn man richtig damit umgeht. Nimmt das Feuer überhand, so dass man ihm die Meisterschaft überlässt, so ist verloren und verwüstet, was es angreift, das ist wahr. Genauso verhält es sich mit der Liebe, wenn sie den Verstand überwältigt: sie blendet die Einsicht des Menschen und verwüstet Seele, Leib/Leben, Ehre und Besitz. Wer dem Feuer zu nahe kommt, dem versengt es seinen Bart."


ich hab ja was übrig für dergleichen rüttelschüttelreim- und überskniebrech-allgemeinheits-analogien. wenn sie aus verstaubten zeiten sind, um so besser! besonders schön finde ich natürlich den hinweis, dass das feuer „gut und nützlich“ sei, „wenn man richtig damit umgeht“. „gut und nützlich“ dieses bürgerliche geschwisterpaar spielt wirklich nicht mit den feuer und es tut gut daran...

ob es als gegenmaßnahme zum in aussicht gestellten brand wohl schon reichen würde, sich täglich zu rasieren?

bon nuit


Mittwoch, 8. Oktober 2008

Alle Tage...


"Vom Traum und für den Traum leben, das Universum auseinandernehmen und wieder zusammensetzen - gedankenverloren wie in den Augenblicken, in denen wir träumen; und dies in dem bewußten Bewußtsein der Nutzlosigkeit und [...] dieses Tuns. Das Leben mit ganzem Körper ignorieren, sich mit allen Sinnen aus der Wirklichkeit verlieren, der Liebe mit ganzer Seele entsagen. Die Krüge, die wir zum Brunnen tragen, mit nutzlosem Sand füllen und leeren, um sie wieder zu füllen und wieder zu leeren, umsonst, umsonster, am umsonstesten.
Girlanden binden und, sobald sie gebunden sind, lösen, gründlich, ganz und gar".


oder aber, silbern, ein kalter hauch:


"Alle Tage mißhandelt mich die Materie. Meine Sensibilität ist eine Flamme im Wind".

(Pessoa, Unruhe)

Sonntag, 5. Oktober 2008

dem steinernen gast


ich erinnere steife dielen und die stunden der tierwerdung, nicht in der parisbar, aber an orten die ebenso einen vorhauch von schwefel kaum übertünchen konnten. blickcollagen deren zwischenräume halbstundenintervalle eingenommen haben mögen und der abschied auf polnisch, queer-beet. die imposante steinerne figur gelehnt an den pfeiler – es hätte nicht wunder genommen, wenn sie jeden moment zu leben erwacht und einen richterspruch ausgesprochen oder gleich vollzogen hätte. meistens aber blieb sie stumm.
its been too long, dass sich dergleichen nicht mehr ergeben hat, vielleicht ist die zeit eh vorbei. erinnert wurde ich durch die zeilen von brinkmann, dem alten kölner und noch immer lassen mich die girlanden grübeln... ein schillerndes, ein zweifelhaftes wort, das ich mit zu bett nehmen werde am ersten wirklich miesen herbsttag dieses jahres.


Ich möchte Wörter benutzen, die

nicht zu benutzen sind. Ich möchte sprechen zu denen, die ich

liebe,

sollte ich mir

ich möchte das nur wieder einmal zeigen, was darin ist?

Ich möchte nicht verladen werden. Ich schaute auf

Gehirn aufbrechen und

über einen Tanzboden schwofen

ohne Girlanden, ich möchte einfach

diese Wörter.

nur einfach ohne Erklärung sein

(RDB, Westwärts, Teil 2)


ps: durch die formatierung is jetzt was anderes rausgekommen als es eigentlich sollte aber auch das ist vielleicht ganz interessant... somit kein zitat sondern: wortsalat nach brinkmann


Samstag, 4. Oktober 2008

als ob ...


als ob pessoa mir beim abfassen meiner ma über die schulter gesehen oder sich in meinen schädelwänden eingenistet hätte:


Schiebe alles auf. Tue niemals heute, was du auf morgen verschieben kannst. Alles Tun ist müßig, heute wie morgen.

Überlege nie, was du tun wirst. Tue es nicht.

(pessoa, unruhe)