Mittwoch, 23. April 2008

Pessoa I

"Da ich also weder an Gott noch an eine Summe von Lebewesen glauben konnte, verblieb ich wie andere Außenseiter in jener Distanz zu allem, die man gemeinhin Dekadenz nennt. Dekadenz bedeutet den vollständigen Verlust der Unbewußtheit; denn die Unbewußtheit ist das Fundament des Lebens. Wenn das Herz denken könnte, stünde es still."

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares)

Donnerstag, 17. April 2008

Time

"So close your eyes, son, and this wont hurt a bit".

(Tom Waits)

Tom Waits "Time" @ youtube

Zeit für flaschenweise klaren Suff

Billiges Spülmittelimitat hinunter die Kehlen

Wer hätte schon was zu verlieren?


Was du nicht vergessen kannst, schnürt sie nicht zu

Die Kehle.

Es öffnet stattdessen und die Namen deiner ungeborenen Kinder feiern ein Halleluja

Bei jedem Schluck.


In Russland säuft man Wodka mit Speck

Und das gemeinsame Brennen in der Kehle

Schafft Vertrauen zum Gegenüber in einer unterkühlten Welt

Die Männer saufen sich zu Tode auf dem Land und ihre Weiber geiern

Wenn ein Bus mit Fremden eintrifft

Nach Begattung hinter der nächsten Ecke

Denn, wann trifft man schon mal einen, der nach 12 noch clean ist oder auch nur will?


Ich glaube, die Männer kümmern sich nicht darum und lassen geschehen, denn ihr Nektar

Träuft in anderer Regelmäßigkeit und sie wissen gerade hier gilt:

No one gets outta here alive. Fesseln der Geburt/ Sozialisation/ Tradition.

Bloß erwischen sollte man sich nicht lassen, wie immer.


Aber Waits bricht aus der Winterkälte

Summt seicht und nimmt uns zur weich erleuchteten Bar next corner an die Hand

Ein Glas auf poliertem Holz, brauner flüssiger Schwung, angenehm warm

Doch genauso empty das Gefühl inside.


Nägelregen, wär meine Freude: einmal zusehen und wärs erkauft durch einen weiteren Schluck

Wie sie fallen und auf die Straße prasseln, Autos zerbeulen, Passanten in Unterschlüpfe springen

und Deckung suchen lassen, die Stadt dem kurzzeitigen Untergang weihend


Und ich danach, auf dem Weg Heim

Mit schiebenden Fußbewegungen

Den Nagelschnee zur Seite befördernd

Für einen Weg in die Nacht


Time


Montag, 14. April 2008

hier in big b is vor kurzem der frühling ausgebrochen. es sind diese 1-2 wochen, in denen die ersten blätter aus den bäumen sprießen und noch so jung und sauber sind, dass sie wie neongrün aussehen. ziemlich irreal irgendwie, aber sehr sehr schön und eine unbestimmte hoffnung liegt über der stadt und jedem strauch. komisch, was die jahreszeiten mit uns so alles anstellen. vor kurzem war noch alles trist und grau und hoffnungslos und nun, mit ein bisschen vogelgezwitscher am morgen, meint man plötzlich es könnte doch wege, es könnte doch auswege geben. was natürlich eine illusion ist, aber eine schöne und sie ist es definitiv wert genossen zu werden. die hummeln ruhen sich aus auf meinem balkon und nehmen ein sonnenbad zum auftanken, die grünlinge kommen vorbei und picken und stochern in der olivenbaumerde herum und man könnte meinen, ich sei ein eremit in den bergen, der mit bambi und den tieren im einklang lebt. dann schlägt die realität aber doch zurück und ich muss zur uni. mit dem laptop und der trainingstasche auf dem rücken bepackt wie ein esel und ähnlichkeiten im bereich der gesichtszüge durchaus nicht ausgeschlossen, verlasse ich die wohnung, aber den abschließenden blick in den spiegel verwehre ich mir...

Sonntag, 13. April 2008

RDB zu Sex

"(zu Sex): also zerlegte ich einmal kalt und ohne mich zu beteiligen so ein Pressebild, und da sah ich, die Bewegung der Augen, die kontrolliert wurden von so ein paar Titten zwischen glimmernden Straß und Klunkern/ und was geredet wurde, das spielte überhaupt gar keine Rolle, das war nur die Wortschau/ und so begriff ich, wie immer so weibliche Körper mit Nacktheit und Klunkern die Augen und die Gedanken kontrollieren, und immer war da dieser bettelnde tierhafte versteinerte Hunger, der sich auf eine Art grässlicher Wunde lautlos öffnete/ und :: was ging denn da vor sich? (ich meine über all das Wortgeflimmer hinaus!)/ und die Geschichte, die da ablief, war wieder so eine Reduktion/ immer legt da sowas wie eine Frau ein paar Teile ihres Körpers aus, so Geschlechtsteile wie ein paar Köder/ und da kommen sie auch schon von allen Seiten angekrochen, schnüffeln und schauen sich um und knurren/ wer hat bloß diese lumpige Mär von den unterdrücken Frauen verbreitet?/"

(Rolf Dieter Brinkmann, Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise/ Zeit / Magazin (Tagebuch))

Wunderbar politically incorrect, der Rolf, nicht wahr?

Sonntag, 6. April 2008

Bonaventura

Zur Zeit lese ich „Die Nachtwachen des Bonaventura“. Was ist über sie hinaus festzuhalten, was ist über sie hinaus zu notieren und als Ausdruck, als Meinung, als Auffassung in die Welt hineinzustellen? Ich glaube wenig.

Die entscheidenden Einsichten sind in diesen Formulierungen und dieser Anordnung gegeben. Für das, was mein Denken bestimmt, für die Fragen, die mich umtreiben, sind hier Formen gefunden, die beschreiben, was zu sagen ist. Es ist wunderbar, dass sich da jemand auf den Weg gemacht hat, sie zu notieren und für sie feste Gebilde zu erdenken, die rezipierbar sind und wie schön, dass es jemand mit so viel Talent und Gefühl für die rechte Stimmung getan hat. Ich glaube auch, dass die entscheidenden Fragen über die Zeit gleich bleiben und das ebenso die Antworten im Kern schon gegeben und auch schon einmal ausgesprochen sind. Das Einzige, was man noch machen könnte, wäre dem Gegebenen eine persönliche Ausformulierung hinzuzufügen. Die Formeln und Gedankenschleifen, die immergleichen Steine, welche die unterschiedlich geprägten Gemüter vor sich herschieben, mit neuen und zeitgemäßen Formulierungen und Metaphern auszuschmücken. Die gleiche Melancholie und die gleichbleibende Unverdaulichkeit des Lebens in neue Gewänder stecken und im glücklichsten Falle für die jetzige Zeit und für die eigene Psychologie Formeln finden, die eine alte Klage neu ausstaffieren. Der Zugewinn ist in diesem Falle relativ. Er ist weniger ein objektiver, da sich die Themen und Reaktionen gleich bleiben, als ein subjektiver, da eine individuelle Darstellung gefunden wird. Wie Benn sagt: wenn sie ihre eigene Formulierung [ihren eigenen Ausdruck] nicht vornehmen, nicht realisieren, wird niemand es für sie tun und sie wird für immer ungesagt bleiben. Wen interessiert es da schon, ob sie gelungen oder dilettantisch ist? Sie ist your own und in diesem Sinne berechtigt, obwohl sie deswegen noch lange nicht gut oder gar ‚wertvoll’ sein müsste, sondern sie ist einfach nur existent. Eine Behauptung gegen das Nichts.

Liao Yiwu


Ich habe letztens ein interessantes Interview gesehen. Es kam auf cnn und wurde geführt mit einem chinesischen Dichter und Musiker: Liao Yiwu. Dieser Mann wurde in Shanghai von einem Reporter befragt, da er noch immer nicht ausreisen darf und seine Schriften weiterhin in China nicht publiziert werden dürfen. Er hatte sich systemkritisch geäußert und jenes besonders im Rahmen der Unruhen um das Tian'anmen-Massaker 1989. Daraufhin ist er für 4 Jahre inhaftiert worden, wurde unter Einzelhaft gehalten, misshandelt, unternahm in Haft 2 Selbstmordversuche. Später wurde er noch einmal für die unerlaubte Publikation seiner und anderer Schriften der 70er Jahre verhaftet.

Beeindrucken für mich war der Kern der Weltsicht, die Yiwu wiederholt in seine Antworten einflocht, besonders wenn der Reporter auf die Entbehrungen und Leiden abzielte, die er zu ertragen hat und hatte (sein Publikationsverbot, die Jahre und Erniedrigungen im Gefängnis und ein rather unpolitisches China – nur noch auf money making und materielle Werte versessen – nach dem Yiwu für dieses Land und einen demokratischen Wandel alles riskiert hatte, eingesperrt war und nun möglicherweise undankbar vergessen nur noch beiseite steht).

Yiwu antwortete, dass er diese Schläge und Schwierigkeiten, diese obstacles in seinem Weg, in chinesischer Tradition und Denkweise mit seinem Glauben an die Macht des Schicksals trage. Dieses Schicksal (fate) sei die entscheidende und vom Menschen nicht zu beeinflussende letzte Größe. Ihm müsse man sich überantworten und das eigene Handeln sei nur Improvisieren mit sehr beschränkten Möglichkeiten. Dies bedeute nicht, dass er für seine Ziele nicht kämpfe – das würde er ausdrücklich tun – aber es würde den gegebenen Spielraum kennzeichnen und die vielfältigen und nur teilweise sichtbaren Unfreiheiten, von denen unser Tun und unser Gelingen oder Verderben abhängt.

Wenn es für den asiatischen Raum nicht eine unpassende Bezeichnung sein sollte, da in ihr unweigerlich die religiös-christliche Dimension mitschwingt (zuminderst in meinen Ohren), könnte man in diesem Zusammenhang durchaus von einer Haltung der Demut sprechen. Demut vor der Erkenntnis, wie gering die Einflussmöglichkeiten auf unser Handeln, unser Schicksal eigentlich sind und bescheidene Dankbarkeit vor dem Glück, das man hat, wenn man die Schwierigkeiten und grausamen Schicksale bedenkt, die einem auch hätten zuteil werden können oder die es vielleicht noch werden. Mehrmals betonte Yiwu die eigene Zufriedenheit über sein Leben und seine Dankbarkeit darüber, dass seine Werke im Ausland erscheinen und dass er auch innerhalb Chinas die Gelegenheit bekommt, im Untergrund seine Dichtung erscheinen zu lassen oder Konzerte zu geben und somit sein Werk zu verbreiten. Über das unglaubliche Glück in einer Zeit geboren zu sein, da solche Äußerungen und Bestrebungen auf Ausdruck und Freiheit überhaupt möglich wären, im Gegensatz zu den Jahren der Mao-Diktatur, in denen Künstler mit angeblich viel mehr Talent als er selbst es besitze, keine Gelegenheit bekommen hätten, sich überhaupt zu äußern, in denen Menschenleben wie Wasser durch die Zeit entflossen wären, ohne Spuren hinterlassen zu können, weil Staat und Terror ihnen jegliche Möglichkeit dazu verwehrten.

Die Akzeptanz des Schicksals als einer höheren Instanz, auf die letztlich nur mit Demut zu reagieren sei, da man sie nicht oder nicht genügend beeinflussen könne, war für mich in seinen Ausführungen der entscheidende Gedanke. Es schien mir in diesem Zusammenhang das Annehmen dessen zu bedeuten, was dir auferlegt ist, was auf dich zu kommt, wohlmöglich ohne deinen Willen und ohne deine Zustimmung, in Verbindung mit der Erkenntnis, dass all deine Handlungen und Reaktionen auf die Welt (dein dich Winden und Herumkriechen, dein Wimmern und Lamentieren) nur Improvisationen sind, nur Versuche, Fetzenflicken und Rumwurschteln vor dem Hintergrund der übergroßen Kausalverbindungmaschiene (und öfters auch ‚Humanmaterial-Zermalmungsmaschiene’), die das Universum darstellt. Ein Possenreißer kann dir zum Verhängnis werden und meistens bist der Possenreißer du selbst, der dich mit deinen eigenen Salti in den Abgrund befördert. In wild kreisenden Armenbewegungen schlägst du unten mit dem Gesicht zuerst auf und fragst dich in den letzten verbleibenden Sekunden, wie du so bescheuert sein konntest... (aber schon in diesen Formulierungen schleicht sich die individuenzentrierte westlich-europäische Denkweise ein).

Ich frage mich, ob diese ‚asiatische Form’ der Akzeptanz, der Demut, die sicher auch eine Obrigkeit erduldende Seite haben kann und vielleicht in diesem geographischen Raum die Ausbildung demokratischerer Strukturen verlangsamt haben mag, ohne eine religiös und metaphysisch verankerte Versprechung auskommen kann (wie es in der christlichen Religion und der Stoa mit dem Verweis auf die Gottheit und ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tode geschieht). Yiwu sprach mehrmals davon, dass er die obstacles in seinem Weg, die Schwierigkeiten und die ihn beschneidenden Personen und Schicksalsschläge als Lehrmeister, als „teachers“ auffasse und deutete sie damit positiv um. Wie kann eine solche Argumentation, eine solche Taktik funktionieren, ohne die metaphysische Annahme eines Lebens nach dem Tode? Denn wofür sollten die schweren Lehren und Prüfungen ‚gut’ sein? Worauf sollten sie vorbereiten und verweisen, wenn durch sie letztlich (nur) Leid produziert wird und am Ende der Tod steht ohne Wiederkehr als radikale Auslöschung? Wofür könnten die Lehren und das Leid produktiv gemacht werden, wenn alles nur auf ein Diesseits beschränkt bliebe?? Wenn das Schicksal nicht wirklich von mir beeinflusst werden kann, sondern ich von größeren und undurchsichtigen Mächten abhänge, dann bin ich gezwungen diese Schläge zu akzeptieren, doch warum sollten sie ‚gut’ sein, wenn man nicht eine Seele voraussetzt, die an ihnen reift und auf einen späteren Zeitpunkt vorbereitet wird?
Hierzu Imre Kertész: „Ist es möglich, die Sinnlosigkeit der Welt, den Gedanken an die totale Vernichtung, die auf unser einmaliges Leben folgt, anzunehmen, ohne daß wir verzweifeln, ja, so daß wir sogar noch Kraft schöpfen aus diesem Gedanken? Hier würde die Freiheit beginnen. In gewissem Sinne auch die Andacht.“ (Imre Kertész, Galeerentagebuch)

Vom ‚westlichen Denken’ setzt sich die hier referierte Auffassung Yiwus in einer gewissen Form der Passivität ab. Mir scheint die Annahme grundlegend, dass man sein Schicksal bestimmen könnte: EIN JEDER IST SEINES GLÜCKES SCHMIEDT liegt dem Europäer mit in der Wiege und wir leben oft danach. Das Schicksal wird gemeinhin nicht so hoch angesetzt, eher verbleiben die Reststücke eines katholischen Glaubens, der eine von Gott geschaffene Welt voraussetzt, die dazu da ist, die Seele der Menschen zu prüfen, die im dem Sinne aber Platz für freien Willen und Gut oder Böse lässt, da Gott nicht eingreift und nicht völlig vorbestimmt hat.

Ein ‚westlicher’ Gedanke zu dem Vorbestimmtsein des Schicksals oder zu seiner großen Macht erscheint mir dessen Verfluchung. Es ist die Anklage, dass es [das Schicksal] überhaupt derartig sein kann, dass die Grundstruktur dieser Welt so gegeben ist und Zufall und Zerstörung zulassen. Das Unmenschliche an den Grundzügen dieser Welt muss dabei verdammt werden und wird nicht als hohe, gütige oder auch nur zu akzeptierende Instanz angenommen, sondern in seiner dem menschlichen Geist und seinem Verständnis der Gerechtigkeit zuwiderlaufender Grundkonstellation angeklagt.

Zerstörung und Zersetzung aller Inhalte bis auf die Welten- und Zellengrundpfeiler, bis auf die Hormonströme, die unsere Züge leiten, ist eine Reaktion auf diese Einsicht. Es ist der mephistophelische Impuls, dass aufgrund der Schlechtigkeit dieser Welt, ihrer Imperfektion, des von ihr hervorgerufenen Leides und dessen himmelschreiender Grundlosigkeit und Ungerechtfertigkeit besser Nichts als Etwas wäre. Dunkelheit anstatt Licht, Statik anstatt der japsenden und tretenden, produzierenden und strömenden, hin- und hertrippelnden Dynamik des Lebens. Das Nicht-Akzeptieren des Unvermeidlichen, zumindest die Formulierung der Unerträglichkeit des Gegebenen als dessen grundlegende Verwerfung in einer aussichtlosen und wahnwitzigen, aber heroischen Haltung.